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Im Gegensatz zu seiner überragenden Präsenz im Konzertleben und auf Tonträgern fand Tschaikowsky durch die Musikwissenschaft bis in die 1980er Jahre nur eine zurückhaltende Rezeption: im angloamerikanischen Sprachraum aufgrund seiner Homosexualität, im deutschen Sprachraum infolge des wirkungsmächtigen Kitsch-Verdikts durch Theodor W. Adorno und maßgebliche Vertreter der akademischen Musikwissenschaft (Carl Dahlhaus u. a.). Aber auch in den letzten Jahren gab es immer wieder Künstler, die zwar ein weitgestecktes Repertoire pflegen, doch um Tschaikowsky einen auffallenden Bogen machen (so etwa Simon Rattle). Das Seminar versucht zum einen, die Ressentiments zu ergründen, denen Tschaikowsky seit den 1920er Jahren begegnete - den Diskurs um Kitsch und die angeblich hemmungslose Zurschaustellung von Emotionalität -, zum anderen versucht es, ästhetische Kategorien zu bestimmen, die auf die Musik Tschaikowskys angemessener und differenzierter reagieren. Aktuell wird die Rezeption Tschaikowskys auch durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine bestimmt, in dessen Licht Tschaikowsky - wenn auch unter genau umgekehrten Zeichen - wieder zu dem Nationalkomponisten wird, der er seit Sowjetzeiten nicht mehr gewesen ist.