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Als man in den 1430er Jahren den antiken Torso vom Belvedere fand und über seine Schönheit staunte, machte man die verwirrende Erfahrung, dass etwas Unvollständiges eine Vorstellung von Vollkommenheit zu vermitteln vermag. Michelangelo studierte den Torso intensiv und bezeichnete sich als dessen Schüler. Dass er zahlreiche eigenen Werke unvollendet ließ, hat viele Gründe. Aber dass man bereits zu seinen Lebzeiten begann, in diesen unfertigen Skulpturen besondere ästhetische Qualitäten zu entdecken, lässt sich mit der wachsenden Bewunderung für die skulpturalen und architektonischen Überreste der Antike in Beziehung setzen. Parallel dazu begann man, in der Malerei mit Formen zu experimentieren, die absichtlich den Charakter des Unfertigen evozieren. Anhand prominenter Beispiele aus Skulptur und Architektur, Malerei und Zeichnung wollen wir untersuchen, wie die Rezeption von Unfertigem und Zerstörtem mit der intentionalen Produktion von Skizzen- und Bruchstückhaftem zusammhängt, durch die neue kreative Potenziale und neue Dimensionen der Zeitlichkeit in die Kunst der Vormoderne eingebracht wurden. Nicht nur die künstlerischen Gestaltungsprozesse wurden dabei auf neue Weise sichtbar und zum Thema gemacht. Auch die Kunstrezeption wurde durch das Spiel mit der Unvollständigkeit in den Rang eines schöpferischen Vorgangs gehoben, lädt es doch die Betrachtenden zur imaginären Vervollständigung ein.
Dozentin: Astrid Zenkert
Im Seminarraum A072
BA KuWi 2, 5, 6