Die Heilig-Blut-Kirche St. Nikolaus im heute verschlafen anmutenden Städtchen Bad Wilsnack in der Prignitz gehört zu den bedeutendsten mittelalterlichen Baudenkmälern Brandenburgs. Nachdem man in der in Folge einer Brandschatzung im August 1383 zerstörten Kirche im damaligen Dorf Wilsnack drei unversehrte, blutende Hostien fand, entwickelte sich der Ort rasch für über 140 Jahre zu einem Wallfahrtsziel mit Zulauf von Pilger:innen aus ganz Europa. Diese Entwicklung des zeitweise sogar als „Santiago des Nordens“ bezeichneten Ortes sowie die Dimensionen der Fahrt zum Wunderblut spiegeln sich in dem rasch begonnenen Wiederaufbau des Kirchengebäudes sowie in seiner sukzessiven Erweiterung und in der von namhaften Stifter:innen, darunter das luxemburgische Herrscherhaus, brandenburgische und sächsische Kurfürsten, König Christian I. von Dänemark und niederländische Adlige, gespendeten, ursprünglich reichen Ausstattung. Von dieser künden heute noch der zur Aufbewahrung der wundersamen Hostien errichtete Wunderblutschrein, ein in großen Teilen erhaltenes Ensemble von Glasmalereien, verschiedene Stein- und Holzskulpturen, das heute als Hochaltar positionierte Kompositretabel und einige Reste einst monumentaler Wandmalereien. Zahlreiche weitere Quellen verschiedenster Gattungen belegen die Faszination des ‘Wilsnacklaufens’ und erlauben, ein Verständnis des einstigen Aussehens der Kirche zu entwickeln, darunter historische Schriftstücke wie Urkunden, Chroniken, Reiseberichte, Testamente und Beschreibungen des Baus, sowie darüber hinaus bildliche Zeugnisse, unter ihnen Darstellungen von Wilsnackpilger:innen, Flugblätter zur Verbreitung der Hostienlegende, Funde von Pilgerzeichen und weitere bauliche Zeugnisse in der historischen Mark Brandenburg, die mitunter als Filial-Wallfahrtsorte zu Wilsnack fungierten.
Das Seminar möchte in das Thema der christlichen mittelalterlichen Wallfahrt einführen und anhand des Beispiels der Wilsnacker Nikolaikirche Zusammenhänge zwischen verehrtem Kult, Bau und Ausstattung, deren liturgischer und prozessionaler Nutzung sowie Stifter:innen aufzeigen. Die Bau- und Ausstattungsgeschichte soll im Spiegel des Wallfahrtsgeschehens und der bereits zügig nach Beginn der Wilsnackfahrt einsetzenden Kritik am Wunderblut – neben dem Magdeburger Domherrn Hinrich Tocke und einem päpstlichen Verbot der Anbetung des Wunderbluts wetterte vor allem Jan Hus gegen den vermeintlich auf Legenden und betrügerischen Wundern beruhenden Wilsnacker Kult, lange bevor die Reformatoren Luther und Melanchthon die Wilsnacker Wallfahrt als ‘Götzendienst’ bezeichneten – rekonstruiert werden. Teils bisher in der Forschung noch wenig beachtete Ausstattungsstücke werden objektmonografisch untersucht. Anschließend wollen wir anhand eines bereits vorhandenen prototypischen 3D-Modells des Chorbereichs der Kirche ein Konzept zur digitalen Erschließung eines solchen Wallfahrtsortes, insbesondere in Hinblick auf seine Bildprogramme, baulichen Veränderungen und praktische Nutzung, partiell erarbeiten.
Aufgrund der breitgefächerten Zusammensetzung des Seminars aus regulären wöchentlichen Sitzungen, Blockterminen sowie mehreren ganztägigen Exkursionen in Berlin und Bad Wilsnack ist die Veranstaltung in der Summe auf 4 SWS angelegt. Mit der Beteiligung am Seminar können folglich zwei Modulbestandteile (innerhalb der angegebenen Module) absolviert werden. Die Teilnahme ist aufgrund der Ortstermine auf 15 Plätze beschränkt. Die Termine werden in Absprache mit den Studierenden zu Beginn des Semesters festgelegt.
Einführende Literatur
Ernst Breest: Das Wunderblut von Wilsnack (1383–1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte, in: Verein für Geschichte der Mark Brandenburg (Hrsg.): Märkische Forschungen, Bd. 16, Berlin 1881, S. 131–302.
Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland (Hrsg.): Bad Wilsnack, St. Nikolaus, in: Mittelalterliche Glasmalereien im Kontext [https://corpusvitrearum.de/glasmalerei-im-kontext.html].
Folkhard Cremer: Die St.-Nikolaus-und-Heiligblut-Kirche zu Wilsnack (1383 - 1552). Eine Einordnung ihrer Bauformen in die Kirchenarchitektur zwischen Verden und Chorin, Doberan und Meißen im Spiegel bischöflicher und landesherrlicher Auseinandersetzungen (= Beiträge zur Kunstwissenschaft, Bd. 63, 1/2), 2 Bde., München 1996 (Marburg Univ. Diss. 1994).
Felix Escher u. a. (Hrsg.): Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter (= Europäische Wallfahrtsstudien, Bd. 2), Frankfurt am Main u. a. 2006.
Volker Honemann: Art. Wilsnacker Wunderblut, in: Burghart Wachinger u. a. (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10, 2. völlig neu bearb. Aufl., Berlin u. a. 1999 (1. Aufl. 1933–1955), Sp. 1171-1178.
Hartmut Kühne u. a.: Art. Wallfahrt/Wallfahrtswesen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35, Berlin u. a. 2003, S. 408–435.
Hartmut Kühne u. a. (Hrsg.): Wunder, Wallfahrt, Widersacher. Die Wilsnackfahrt, Regensburg 2005.
Hartmut Kühne u. a. (Hrsg.): Andacht oder Abenteuer. Von der Wilsnackfahrt im Spätmittelalter zu Reiselust und Reisefrust in der Frühen Neuzeit (= Jakobus-Studien, Bd. 23), Tübingen 2020.
Hartmut Kühne u. a. (Hrsg.): Pilgerspuren. Von Lüneburg bis an das Ende der Welt. Wege in den Himmel (= Pilgerspuren – Orte, Wege, Zeichen), Ausst.-Kat., Museum Lüneburg und Museum Schwedenspeicher in Stade 2020, Petersberg 2020.